17.07.2007
Hintergrund: Ein Tal voller Forscher
Keine andere Landschaft der Schweiz wird so genau erforscht wie das Urserntal im Kanton Uri – von Historikern, Botanikern und Biologen.
Der erste Impuls kam aus dem Tal: Im Jahr 2002 beauftragte die Korporation Ursern den Basler Geschichtsprofessor Martin Schaffner mit der Sanierung des umfassenden, aber ungeordneten Talarchivs. «Wenn das Tal eine Zukunft haben soll, muss sich in den Köpfen der Menschen einiges ändern. Darum müssen wir uns mit unserer Geschichte befassen», hatte der damalige Talammann Karl Danioth erklärt. Die Talgemeinde blickt auf eine über 800-jährige Geschichte zurück, über 90 Prozent des Urserntals sind in ihrem Besitz: die ganze grandiose Landschaft zwischen den Pässen Oberalp, Gotthard und Furka mit den Orten Andermatt, Hospental und Realp.
Was mit einer historischen Auftragsarbeit begann, hat sich auch dank der Unterstützung durch Korporation und Kanton Uri zu einer für die Schweiz ungewöhnlich praxisnahen Zusammenarbeit von Historikern, Botanikern und Biologen entwickelt: Christian Körner, Professor für Botanik an der Universität Basel, forscht seit 16 Jahren auf der Furka, wo er zusammen mit der Botanikerin Erika Hiltbrunner eine alpine Forschungs- und Ausbildungsstätte aufgebaut hat. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Disziplinen war ursprünglich nicht geplant, denn obwohl alle Wissenschafter der Uni Basel angehören, kannte man sich nicht. Es war die Korporation Ursern, die den Kontakt zwischen Geistes- und Naturwissenschaftern herstellte. Inzwischen arbeiten auch Forscher aus den Instituten für Geoumweltwissenschaften und für europäische Ethnologie der Uni Basel im Tal.
Seit klar ist, dass der ägyptische Investor Samih Sawiris voraussichtlich im nächsten Frühling mit dem Bau einer riesigen Tourismusanlage beginnen wird, herrscht in Andermatt Aufbruchstimmung. Es mehren sich die Baustellen, die touristische Hochblüte wird freudig erwartet. Im Jahr 2003, als die Projektgruppe des Historischen Seminars Tausende von Dokumenten aus der Zeit von 1800 bis 1950 zu sichten begann, war das anders. Mit dem Abbau der militärischen Präsenz in den 1990er Jahren war ein Vakuum entstanden, eine kollektive Depression, die sich unter anderem in einer starken Abwanderung äusserte. Während eines Jahres entzifferten, bewerteten und ordneten die Historiker damals jedes Dokument und nahmen es je nach Gehalt in den neuen Bestand auf.
Nach der Erstellung dieses für den Alpenraum einzigartigen Archivs (das heute im Rathaus von Andermatt zugänglich ist) folgte eine wissenschaftliche Auswertung in Form mehrerer Forschungsarbeiten. Ein wichtiges Thema war die Tourismusgeschichte des Tals: Schon vor 150 Jahren hat Andermatt einen radikalen Wandel erlebt, als es sozusagen über Nacht von einem kleinen Dorf an der Route über den Gotthardpass zu einem Reiseziel für die wohlhabende Oberschicht wurde. Noch vor der Eröffnung des Gotthardtunnels im Jahr 1882 entstanden drei Grand-Hotels.
Die Engländerinnen, die damals in Kutschen angefahren kamen, hatten klare Vorstellungen von den Alpen. Die Realität war anders: «Die Städter mochten beispielsweise keine frische Milch, weil sie nach Stall riecht. Also wurde die Milch aufgekocht, abgekühlt und für die Touristen wieder auf Kuhtemperatur aufgewärmt», erzählt Silvia Scheuerer. Die Historikerin arbeitet an einer Dissertation zum Thema «Das Hotel als Plattform des Kulturtransfers», in deren Rahmen sie mit Zeitzeuginnen der Frage nachgeht, ob und wie das idealisierte Alpenbild der Städter zu dem der Einwohner geworden ist.
Ein anderer Aspekt ist die Nachhaltigkeit des damaligen Tourismus: «Den ersten Globalisierungsschock erlebte das Dorf nach dem Ersten Weltkrieg, als die Touristen plötzlich ausblieben», erzählt Silvia Scheuerer. Doch im Unterschied zum heute geplanten Sawiris-Grossprojekt wurden die damaligen Tourismusprojekte von Unternehmern aus dem eigenen Tal lanciert, die als Vermittler und Übersetzer zwischen den Erwartungen der Touristen und der Talbevölkerung wirkten.
Inhaltlich eng verknüpft ist eine Forschungsarbeit zur Bedeutung der Landwirtschaft im Urserntal von 1950 bis heute – Rahel Wunderli führt für dieses Oral-History-Projekt Interviews mit Bewohnern des Tales. Mit der Perspektive des Sawiris-Projekts beginnt man in Andermatt heute zu realisieren, dass die Landschaft tourismuskonform sein muss: Erwünscht ist ein möglichst vielfältiger Naturraum, in dem man gerne wandert und sich aufhält. Gerade dieses Ziel ist aber nur mit der traditionellen Landwirtschaft zu erreichen: Grosse Teile der Landschaft sind zum Beispiel nach dem Rückzug der Landwirtschaft verbuscht und damit für Fussgänger kaum mehr passierbar.
Auf der Fahrt von Andermatt auf den Furkapass zeigt die Botanikerin Erika Hiltbrunner auf die Grünerlen, die sich am Talhang über weite Strecken ausgebreitet haben. Die Korporation hat sie gebeten, eine Strategie gegen das grüne Dickicht zu entwickeln, denn Grünerlenbüsche lassen sich, wenn sie einmal Fuss gefasst haben, kaum mehr roden. Dazu kommt, dass sie die Stabilität der Hänge untergraben, weil mit einer Monokultur die unterirdische Vielfalt der Wurzeln abnimmt: «Biodiversität ist eben auch aus Gründen der Sicherheit relevant», betont Erika Hiltbrunner. Hochdiverse Pflanzendecken, die aus vielen Pflanzen mit unterschiedlichen Wurzellängen bestehen, wirken durch dieses reich strukturierte Wurzelwerk der Gravitationskraft entgegen und stabilisieren die Steilhänge.
Es ist bereits der sechste Sommer, den Erika Hiltbrunner auf dem Furkapass auf 2450 Metern Höhe verbringt. Die neue alpine Forschungs- und Ausbildungsstation ist ein Projekt der Universität Basel und der Korporation Ursern. Sie ist in der Schweiz die einzige Forschungsstation oberhalb der natürlichen Waldgrenze und befindet sich in Gebäuden des ehemaligen militärischen Truppenlagers. Gleich hinter der Militäranlage werden seit Mai letzten Jahres neun verschiedene Pflanzenarten des Gletschervorfeldes einer erhöhten Kohlendioxidkonzentration ausgesetzt, wie sie für das Jahr 2070 erwartet wird. Jede Pflanze wurde zuvor ausgegraben, gewogen und wieder in den Boden eingepflanzt. Der Versuch ist auf drei Jahre angelegt. Bisherige Beobachtungen zeigen, dass die Pflanzen des Gletschervorfeldes auf ein erhöhtes CO 2 -Angebot nicht mit einem grösseren Wachstum reagieren.
Ein anderes Projekt untersucht den Einfluss einer nachhaltigen Beweidung auf den Wasser-Ertrag in alpinen Einzugsgebieten. Dank dem neuen Archiv kann Erika Hiltbrunner in Erfahrung bringen, wie die Landnutzung in früheren Zeiten ausgesehen hat: «Ich sehe beispielsweise, welche Zonen wann mit welcher Viehdichte genutzt wurden. Wo heute Grünerlen stehen, weideten früher die Geissen. Oder ein anderes Beispiel: Wenn ich lese, dass die Bäume des Schutzwaldes aus dem Schwarzwald stammen, wird mir sofort klar, weshalb sich die Bäume hier oben nicht versamen.»
Der Basler Biologe Daniel Küry erforscht Quellen und die Frage, wie deren Lebensraum aufgewertet werden kann. Geplant ist ein internationales und interdisziplinäres Alpenquellen-Projekt, das auch eine Untersuchung über die historische Bedeutung von Trinkwasserquellen enthält. Wie reich der Lebensraum Quelle ist, demonstriert Küry auf der Nordseite des Gotthards. Von Auge erkennt er auf einem Stein die ebenso winzigen wie wichtigen Quellbewohner: Alpenstrudelwurm, Eintagsfliege und Sumpfkäfer.
«Was uns alle verbindet sind ebenfalls Quellen – die mangelnden Geldquellen nämlich», meint Erika Hiltbrunner. Am Tisch im renovierten Archivraum, wo sich die Forscher austauschen, wird aber deutlich, dass es noch ein anderes gemeinsames Anliegen gibt. Martin Schaffner formuliert es folgendermassen: «Wir alle möchten, dass die Verfügbarkeit über Ressourcen wie Boden, Wasser und Landschaft im Tal bleibt.»
Die Landschaft soll tourismuskonform sein: Erwünscht ist ein Naturraum, in dem man gerne wandert. (Quelle: NZZ Online / NZZ am Sonntag, Daniela Kuhn)
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